L. Gall u.a. (Hrsg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert

Cover
Titel
Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert. Im Auftrag der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaf


Herausgeber
Gall, Lothar; Schulz, Andreas
Reihe
Nassauergespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft 6
Erschienen
Stuttgart 2003: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
241 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sebastian Brändli

Die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft fördert regelmässig interdisziplinäre Forschungsunternehmen durch die Einladung zu den Nassauer Gesprächen und durch die Publikation der jeweiligen Tagungsbeiträge. Der vorliegende 6. Band ist der Veranstaltung des Jahres 2000 gewidmet, welche zum Thema Wissenskommunikation durchgeführt wurde. Die Wahl dieses Themas ist wissenschaftlich relevant und auch aus praktisch-politischer Sicht verdienstvoll; zudem wurde das Thema vom Frankfurter Forschungskolleg Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel (das den Status eines Sonderförderungsbereiches DFG hat) gefördert.

Ganz konform mit der Anlage der Tagung als Veranstaltung im Rahmen eines ambitiösen Forschungsprojektes sind die Einleitung der Herausgeber und die acht Beiträge vom Ansatz her relativ nahe beieinander. Alle lehnen sich stark an die umfangreiche deutsche Bürgertumsforschung des letzten Jahrzehnts an. Schade ist allerdings, dass diese Homogenität eher stilistisch ist und weniger konzeptionell. So ist denn auch dem spezifischen Thema des Wissens kein eigener konzeptioneller Beitrag gewidmet, und auch in den Beiträgen ist kaum ein spezifisches Konzept erkennbar. Ansätze zu übergeordneten Fragen gibt es zwar, aber die Herausgeber widmen in der Einleitung der theoretischen Auseinandersetzung nur wenige Zeilen. In knapper Form umreissen sie ein breites Verständnis von Wissen und Wissenskommunikation, um dann letztlich doch wieder einer relativ institutionellen Sichtweise das Wort zu reden. Dabei wird allerdings eine sehr flexible Dynamik der Entstehung und Verwendung von Wissen in Rechnung gestellt, und es werden auch jene Themen besonders angesprochen, «die die traditionelle Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte vielfach übergeht: Wissen, das Menschen benötigen, ihre Lebenswelt zu strukturieren» (S. 8). – Der fruchtbarste im Band angeführte Ansatz für das Thema der Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert – dem Jahrhundert der Verbindung von Wissenschaft mit Industrialisierung, der zunehmenden gesellschaftlichen Funktionalisierung von Wissen – wäre wohl derjenige von Walter Benjamin, der von Carsten Kretschmann zitiert wird. Im ausgezeichneten Aufsatz über Wissenskanonisierung und -popularisierung in Museen des 19. Jahrhunderts transponiert Kretschmann Benjamin mit: «Wissen, das keinerlei Anweisung auf seine Verbreitungsmöglichkeit enthält, ist in Wahrheit kein Wissen» (S. 179f.). Dieses Diktum verknüpft Information mit Funktionalität, verweist auf Verfügungs- und Vermittlungsformen und macht Wissen anschlussfähig an Gesellschaft und Individuum. – Die Homogenität des Bandes wird im übrigen dadurch verstärkt, dass praktisch ausschliesslich deutsche Untersuchungen referiert werden, was leider fast durchwegs auch auf die verarbeitete theoretische Literatur zutrifft.

Einige Beiträge orientieren sich an Institutionen, gehen im Sinne einer soliden Sozialgeschichte aber auch auf übergeordnete Fragestellungen ein, so vor allem Notker Hammerstein zum Thema «Elementarschulen als Träger von Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert» und Barbara Wolbring mit «Weltorientierung durch Schulwissen. Unterricht und Erziehung an Frankfurter Elementarschulen im Kaiserreich». Spezifischeren Fragestellungen, die teils auch quer zu institutionellen Settings stehen, gehen nach: Andreas Schulz: Der ‘Gang der Natur’ und die ‘Perfektibilität’ des Menschen. Wissensgrundlagen und Vorstellungen von Kindheit seit der Aufklärung»; Jürgen Schlumbohm: «‘Was Hänschen (nicht) lernt ...’: Thesen und Fragen zur ausserschulischen Sozialisation von Kindern im 19. Jahrhundert»; Henning Pahl: «‘Glaub’ nur ans Wort, Bet’ immerfort – Deutungen und Reaktionen württembergischer Landpfarrer auf den gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts», Dieter Langewiesche: «Welche Wissensbestände vermittelten Volksbibliotheken und Volkshochschulen im spätern Kaiserreich?».

Paradigmatisch für die ganze Fragestellung ist der Beitrag von Dieter Hein – in zweierlei Hinsicht. Unter dem Titel «Formen gesellschaftlicher Wissenspopularisierung: Die bürgerliche Vereinskultur» widmet er sich dem zentralen Phänomen des Jahrhunderts bezüglich Ausweitung und Aneignung von Bürgerwissen: den Vereinen. Mit Blick auf die zentrale Funktion der Vereine wurde auch schon zu Formulierungen wie «Jahrhundert der Bildung» oder «Jahrhundert des Vereinswesens» gegriffen. Heins Beitrag identifiziert diese zentrale Rolle der Vereine, nimmt auch eine knappe systematische Analyse des Beitrags der Vereine an die Entwicklung von Wissenskommunikation vor und erkennt die wohl wichtigste Innovation dieser gesellschaftlichen Institution: die Schaffung und Pflege von selbstverantworteter, unverpflichteter, tendenziell egalitärer Wissenskultur im geschützten Raum der Vereine. – Als ob die Vereine ihre historische Mission erfüllt hätten, begann ihr Stern im 3. Drittel des 19. Jahrhunderts zu sinken. Durch Spezialisierung und Professionalisierung, insbesondere durch Schaffung öffentlicher, d.h. staatlicher Institutionen, gerieten die privaten Vereine und Gesellschaften mehr und mehr in Rücklage, was Hein zu Recht auch mit der starken Kanonisierung bürgerlichen Kultur- und Bildungswissens in Verbindung bringt (S. 169).

Zitierweise: Sebastian Brändli: Rezension zu: Wissenskomm
unikation im 19. Jahrhundert. Im Auftrag der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, hg. von Lothar Gall und Andreas Schulz (Nassauergespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft 6), Stuttgart, Steiner, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 3, 2004, S. 344-346.